„Atlas streikt“ in Bregenz: Gesellschaftsgestaltende oder unternehmerische Hybris bzw. eine völlig andere Kapitalismuskritik
Mit der Uraufführung von „Atlas streikt“, einer Adaptierung des Romans „Atlas Shrugged“ von Ayn Rand, hat das Vorarlberger Landestheater die Spielzeit eröffnet. Ich habe u.a. eine Rezension für die Plattform nachtkritik.de verfasst.
In der Wahl des Stücks, in dem man grundsätzlich auch eine völlig andere Kapitalismuskritik findet, lässt sich auch ein Bezug zu Österreich erkennen. Ein Vorfall hat Intendantin Stephanie Gräve nämlich in ihrer Entscheidung bestärkt. Vor eineinhalb Jahren nahm mit Sebastian Kurz ein ehemaliger österreichischer Bundeskanzler und Vorsitzender einer christlich-sozialen Partei einen Posten bei Peter Thiel, Tech-Milliardär und Unterstützer von Donald Trump, an.
„Ich bin, also werde ich denken“, lautet der letzte Satz in der Bühnenfassung. Einige Protagonisten haben sich damit eben einmal rasch vor das Mikro gestellt und ans Publikum gewendet. Es sind jene Produzenten bzw. Unternehmer und Begüterten, die im Amerika der 1950er-Jahre angesichts von Marktregularien in den Streik getreten sind. Wenn sie sich selbst ernst nehmen, dürfte er nicht lange dauern.
Doch hier ist das Stück zu Ende, das Niklas Ritter erstellt hat. Nach dem Auftritt der bösen Kapitalisten in „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ von Bertolt Brecht und Elisabeth Hauptmann, mit denen Intendantin Stephanie Gräve die letzte Spielzeit eröffnet hatte, wurde wohl kein gemilderter Blick auf jene notwendig, die im Geld schwimmen. Zu fragen, was passiert, wenn die Personen fehlen, die das Potenzial haben, um Entwicklungen voranzutreiben, führte jedoch erwiesenermaßen zu diesem Stück- oder Adaptierungsauftrag, auch wenn sich die Wahl für das 1957 erschienene, in der deutschen Übersetzung etwa 1400 Seiten umfassende Werk der russisch-US-amerikanischen Autorin und Philosophin Ayn Rand (1905-1982) in diesem Zusammenhang nicht unbedingt erschließt. Vermutlich hatten sich aber auch Nicolas Stemann, der am Zürcher Schauspielhaus eine Musicalfassung erstellte, und Stefan Bachmann, der sich vor Jahren in Köln Ayn Rand widmete, derlei Fragen zu stellen.
Es war zu erwarten, dass Niklas Ritter, der die Uraufführung seiner Fassung selbst inszenierte, eine ambivalente Haltung zum Werk der als Vordenkerin eines unregulierten Kapitalismus zu bezeichnenden Ayn Rand erkennen lässt. Er langweilt dabei nicht mit theoretischen Einschüben, sondern konzentriert sich auf den Plot mit kurzen Dialogen, einem Spannung erzeugenden, gut mit Musik von Oliver Rath unterlegten, ineinander verzahnten Szenenwechsel und wagt sich dabei bis an die Grenze zu Karikatur und Überhöhung.
Schon die unrealistisch rasche Entschlossenheit, mit der die auf ihren Verstand vertrauende Eisenbahnerbin Dagny Taggart Entscheidungen fällt, die die Prosperität ihres Unternehmens fördern, verweist auf die utopische Definition von Freiheit durch Ayn Rand. Geht die Autorin doch davon aus, dass es in uneingeschränkter Freiheit ausschließlich lautere Beweggründe sind, die die Menschen zum Handeln verleiten. So wie Vivienne Causemann die Figur Dagny spielt, ist sie über jeden Vorwurf der Unaufrichtigkeit erhaben und im Übrigen auch über den Vorwurf der Überheblichkeit. Eine Gratwanderung, die ihr gelingt. Wobei feststeht, dass Niklas Ritter seine Version nur realisieren konnte, weil er eine Schauspielerin dieses Kalibers im Team hat.
Der gewährte Blick auf die emotionale Strukturiertheit des zweiten Verstandesmenschen macht Hank Rearden – verheiratet, aber der Geliebte von Dagny – laut Textvorlage fast zu sympathisch. Raphael Rubino tut viel, dass man ihm den Stahlmagnaten abnimmt, der in der Lage ist, das Gericht zu düpieren vor dem er steht, weil er die auf Korruption basierenden Regulierungsgesetze nicht einhielt. Unter den schablonenhaften Figuren, zu denen auch Mrs. Rearden zählt, die sich aus verletzter Eitelkeit auf die Seite der Regulierer und Intriganten schlägt, nimmt James Taggart, Dagnys Bruder, eine besondere Stellung ein. Nico Raschner besteht die Herausforderung, seine Auftritte als Looser nicht zur Farce verkommen zu lassen. Das wäre auch zu dumm, denn dann wäre der feministische Inhalt versickert, der durch die starke Vizepräsidentin Dagny zum Tragen kommt, die nur noch nicht offiziell Unternehmenschefin sein konnte, weil dies die Zeit des Romans nicht zulässt. Mit einer spitzzüngigen Francisca d’Anconia (im Roman ein Multimillionär), mit der Nanette Waidmann viel Zynismus einbringt, wird dieser Aspekt noch betont.
Es braucht somit wirksame Rezepte zur Umsetzung des Plots, um sich aus heutiger Perspektive noch an Ayn Rand zu reiben. Dazu zählt etwa auch das Vermitteln eines mitschwingenden Chauvinismus, wenn sich die Streikenden als denkende Elite bezeichnen. Auch das Bühnenbild von Annegret Riediger, das Produktionsstätten andeutet, sich aber zurücknimmt und Projektionsflächen für Videos bietet, auf denen bejubelte Eisenbahntrassen dann auch einmal Achterbahnen sein dürfen, gehört dazu. Gesellschaftsgestaltendes Unternehmertum und unternehmerische Hybris überlappen sich hier bzw. in diesem Moment gut zum exemplarischen Bild dieses Stücks und dieser Inszenierung.
So funktioniert eine Bühnenadaption des Romans, die sich auch als besondere bzw völlig andere Kapitalismuskritik erfahren lässt.
Szenenbilder: Vorarlberger Landestheater/Anja Köhler