Starke Saisoneröffnung im Bregenzer Theater Kosmos oder eine Begegnung mit Tschechow im Beziehungs- und Schreiblabor

Starke Saisoneröffnung im Bregenzer Theater Kosmos oder eine Begegnung mit Tschechow im Beziehungs- und Schreiblabor

Eine schlichte Klassiker-Bearbeitung ist im Bregenzer Theater Kosmos, einer Bühne, die sich Ur- und Erstaufführungen verschrieben hat und nur selten zu Stücken aus dem literarischen Kanon abschweift, nicht zu erwarten. „möwe/retweeted“, der erstmals präsentierten Überschreibung eines Tschechow-Stücks von Sina Heiss, hat es bestätigt. Meine Kritik erhielt die Austria Presse Agentur. Hier ein Zusammenfassung mit einer paar Fakten.

  1. Die Produktion eignet sich gut für Tschechow-Anfänger bzw. auch für Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler.
  2. Es sind nur die Protagonisten in Anton Tschechows 1896 uraufgeführtem Drama „Die Möwe“, die nun auf der Bühne stehen. Und zwar permanent, denn dass sich Mascha zum jungen, noch nicht erfolgreichen Autor Konstantin hingezogen fühlt, dass dieser aber die Schauspielerin Nina liebt, die wiederum vom berühmten Schriftsteller Boris fasziniert ist, der allerdings der Lover von Konstantins Mutter Irina ist, motivierte die aus Tirol stammende Autorin und Regisseurin Sina Heiss bei ihrem Debüt in Bregenz dazu, eine Laborsituation herzustellen.
  3. Offeriert werden dem Publikum somit reihum einzelne adaptierte Paar-, Gruppen- und Dialogszenen aus Tschechows Drama und über den Köpfen prangen immer wieder Zitate aus Briefen des russischen Autors, die durch die Stimme des Schauspielers Hubert Dragaschnig besonderen Zauber entfalten.  
  4. Eine Frage rückt angesichts der Äußerungen von Tschechow und des Ringens von Konstantin um seinen schriftstellerischen Ausdruck in den Fokus: Wie viel bloße Theorie zu Autorenschaft, und Anerkennung verträgt ein Stück, das Tschechow selbst als „viele Gespräche über die Literatur, wenig Handlung, ein Pud Liebe“ definiert und das in seiner Grundstruktur die Beziehungserfahrungen von Menschen abzuhandeln hat? (Pud ist übrigens eine russische Maßangabe.)
  5. Sina Heiss geht diesbezüglich bis an die Grenze. Sie berücksichtigt dabei die komischen Aspekte und hat mit Alduin Gazquez (Konstantin), Ylva Maj (Nina), Theresa Martini (Mascha), Seraphine Rastl (Irina) und Radu Miodrag Vulpe (Boris) ein Team, das eine distanzierte Spielweise in einnehmender Kompaktheit zeigt.
  6. Die performativen Elemente mit denen Gemütszustände der Personen verdeutlich werden, wirken zwar oftmals etwas stark belehrend, aber immerhin, die Musikauswahl (etwa „Absolute Beginners“ von David Bowie oder „Nothing Compares 2 U“ von Sinéad O’Connor, das Bond-Thema und einige Schnulzen) wirkt nicht banalisierend, sie funktioniert wie eine Entspannungsübung gegen das Verkopfen.
  7. Die Ausstattung von Sophie Lenglachner umspannt mit einem Servierwagen, einer mechanischen Schreibmaschine, einem Laptop, aber auch reichlich Transistorradios sowie Details an den heutigen Kostümen die Zeit von „Die Möwe“ bis zu „möwe/retweeted“. 
  8. Unter dem Titel “Die Überflüssigen” hat Sina Heiss im letzten Jahr im Wiener TAG eine “Iwanow”-Bearbeitung realisiert. Die Frage, wer warum entbehrlich ist, oder sich als entbehrlich wahrnimmt, hat Eindruck hinterlassen. In “möwe/retweeted” ist es die einnehmende Leichtigkeit mit der hier komplexe Themen wie Beziehungsfähigkeit und die im Titel mitschwingende Aneignung aufgegriffen werden. Die Betonung liegt auf aufgegriffen. Die Gefahr, dass das jenen zu wenig ist, die die Themen “behandelt” sehen wollten, dürfte von Sina Heiss bewusst in Kauf genommen worden sein.
  9. Im Foyer läuft eine Ausstellung mit Werken des Vorarlberger Künstlers Ruben Aubrecht, in denen das Tschechow’sche Motiv der Sehnsucht zu finden ist, das in dieser Inszenierung keine große Berücksichtigung findet – aber auch nicht finden muss.

Bild: Theater Kosmos/Gmeiner

Aufführungen im Theater Kosmos in Bregenz bis 21. Oktober

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