Queerness und gleich zwei Opernprachtpaare im Bregenzer Festspielsommer

Queerness und gleich zwei Opernprachtpaare im Bregenzer Festspielsommer

Seit dieses marode „Freischütz“-Dorf an einem vereisten Tümpel den Bodenseeuferabschnitt im Bregenzer Festpielareal bildet, muss ich an ein Vorhaben von Alfred Wopmann denken. Der Intendant, der vor David Pountney und Elisabeth Sobotka die Seebühnenästhetik revolutionierte, beschloss in den Jahren 2001 und 2002 Puccinis „La Bohème“ auf den See zu bringen. Das gehe nicht, kommentierten die Kleingeister, denn unter freiem Himmel, mitten im Sommer ließe sich für die ersten beiden Szenen kein Weihnachtsabend herbeizaubern. Geht doch, bewies er mit Richard Jones und Antony McDonald. Die Bühne bildeten stilisierte Pariser Bistrotische und für das Joyeux-Noël-Flair  reichten ein paar überdimensionierte Grußkarten.

Nachdem etwa David Pountney „Die Zauberflöte“ auf einem von Drachen umkränzten Schildkrötenrücken spielen ließ, Elisabeth Sobotka für „Carmen“ zwei auf das Libretto bezogene, riesige kartenspielende Hände und für „Rigoletto“ gar einen ebenso überdimensionierten Clownskopf akzeptierte, hat es erst einmal überrascht, dass es nun alten Landschaftsgemälden nachempfundene Häuschen und Bäumchen in einem eigens errichteten, großen Wasserbecken auf dem See gibt. Ein Symbol muss sein auf dieser berühmten Freilichtbühne  – und das haben wir nun mit dem Winter: Schließlich spielt „Der Freischütz“ von Carl Maria von Weber in einem ländlichen Kaff nach einem Krieg: Der Dreißigjährige ist es im Libretto, die Handlung des 1821 uraufgeführten Werks ins frühe 19. Jahrhundert zu verlegen, ist legitim, fast Usus, die Adeligen sowie Besitzende hatten immer noch das Sagen und der Klerus konnte je nach Bedarf mit ewiger Verdammnis drohen. Abscheuliche Diktatur – symbolisiert durch Eis, Kälte, kahle Bäume und dem Teich, in dem alle waten, in dem das Grauen schlummert und in der Nacht auftaucht aus den Fluten wie der Aber- und Teufelsglaube (an dem der Klerus über Jahrhunderte gut verdiente). 

Wer keine Lust auf diese 19. Jahrhundert-Moritat mit diesen moralischen Themen sowie auf diese Schauergeschichten hat, der müsse die Finger vom „Freischütz“ lassen, hat mir Philipp Stölzl, Regisseur und Bühnenbildner der neuen Bregenzer Seebühneninszenierung in einem Interview für das Magazin „Kontur“ gesagt. Er hatte Lust darauf, mehr noch, er hatte auch Lust konkret und klug auf das Gespensterbuch von Apel und Laun zu verweisen, aus dem sich der „Freischütz“-Librettist Friedrich Kind bediente. Dort stirbt Agathe an der letzten jener Freikugeln, für die sich ihr Max mit dem Teufel einlässt, um beim Probeschießen die Ehetauglichkeit zu erhalten. In der Oper lenkt ein Eremit die Kugel um – Max erhält eine zweite Chance. 

Stölzl lässt sowohl das eine wie das andere Finale spielen, setzt dafür einen Conférencier ein und gibt diesem das Outfit des Teuflischen wie des Klerikalen. Wer es kapiert hat, erkennt viel Tiefgang in dieser schaurigen Show mit feuerspeiender Riesenschlange in der Wolfsschluchtszene, einem Opferlamm und einem göttlichen Auge, das zwinkert. Mit religiöser Ikonographie ist Stölzl ebenso vertraut, wie mit den Gesten der Ignoranz, der Überheblichkeit, der Unterwerfung und des Aufbegehrens, die er in der Personenführung zur Wirkung bringt. 

Kurz: Es stecken enorme Feinheiten in dieser Inszenierung, über die Stölzl seinen Samiel auch selbst reflektieren lässt, wenn dieser etwa mit dem Popcornkino die oberflächlichste aller möglichen Schlagzeilen zum neuen „Freischütz“ wörtlich launisch formuliert.

In einer Oper, die zu 40 Prozent aus Sprechpassagen besteht, will er die Frauenrollen aufwerten, hat der Regisseur zudem versprochen.

Der Versuch war es auf jeden Fall wert, auch wenn die Musik den Rollenstereotypen des 19. Jahrhunderts entspricht. Es besteht in den neu geschriebenen Dialogen kein Zweifel daran, dass Ännchen und ihre Freundin Agathe die Kraft hätten, dieses Macho-Dorf zu verlassen bzw., dass das Jungfernkranz-Lied definitiv obsolet ist. 

Ich habe übrigens zwei Hauptproben (eine mit der Premierenbesetzung) gesehen: Dass diese Mixtur aus alter Oper und zeitgemäßem Schauspiel funktioniert, ist somit dem Regiekonzept, den Stimmen wie dem Spiel (erwähnt seien Nikola Hillebrand, Katharina Rückgaber, Mauro Peter und Moritz von Treuenfels) sowie den Wiener Symphonikern unter Enrique Mazzola zu verdanken. Über das Eindampfen bzw. Streichen mancher Musiknummern lässt sich diskutieren, aber wo dem Orchester das Erzeugen enormer Spannung vergönnt ist, da bringt es die Partitur noch mehr zum Leuchten als es die vielen Scheinwerfer im Areal vermögen. 

Apropos Ännchen und Agathe: Dass die beiden Frauen ein Paar werden könnten, deutet Stölzl immerhin an. Das ist nicht abwegig, sondern ist hinsichtlich möglicher Neuinterpretationen von abgestandenen Opernstoffen faszinierend. Jan Philipp Gloger, Regisseur der Rossini-Oper „Tancredi“, nimmt sich da kein Blatt vor den Mund. Tancredi wird bei ihm nicht nur mit einer Mezzosopranistin besetzt wie es in der Partitur steht, sie ist eine Frau. Der Musik wegen wählt er für die Bregenzer Festspiele allerdings nicht das Finale der Uraufführung der Oper in Venedig, in dem Tancredi mit Amenaide vereint wird, sondern jenes, das Rossini für Ferrara umgeschrieben hat, in dem Tancredi stirbt. (Dass er die mittelalterlichen Familienfehden ins Milieu von heutigen, patriarchal strukturierten Drogenclans verlegt, ist nachvollziehbar.)

Ich hätte das queere Liebesglück bevorzugt, Anna Goryachova begeistert als Tancredi schon in früheren Passagen mit ihrer wunderbar timbrierten, geschmeidigen Stimme. Unter dem Dirigat von Yi-Chen Lin bilden sie und Mélissa Petit das zweite weibliche Opernprachtpaar des beginnenden Festspielsommers. 

(Unten: Geiferte “Tancredi”-Protagonisten. Die Seebühnen-Inszenierung von “Der Freischütz”, Wolfsschluchtszene.)

Und: Ich konnte es nicht abwarten bis “Hotel Savoy” mit der Musicbanda Franui zu den Bregenzer Festspielen kommt und bin daher nach Stuttgart gedüst. Die Produktion des Stuttgarter Schauspielhauses und der Oper hatte bereits im Juni dort Premiere. Franui sind seit einigen Jahren quasi ein Fixstarter in Bregenz, somit lässt sich die Übernahme des Projektes für drei Aufführungen (ab 21. Juli im Theater am Kornmarkt) erklären. Die Verzahnung der Handlung des 1924 erschienenen Romans “Hotel Savoy” von Joseph Roth mit Operetten, deren Musik oder Libretto von Künstlern geschaffen wurde, die vor den Nazis aus Deutschland und Österreich geflüchtet waren oder von ihnen ermordet wurden, erweist sich als gutes Konzept. In der Inszenierung geht es nicht ganz auf, weil sie die Tragik der Schicksale in der Zwischenkriegszeit in zu viel Klamauk verwässert. Dennoch: Die Franui-Bearbeitungen gehen unter die Haut und das Spiel von Josephine Köhler, Gábor Biedermann, Josefin Feiler etc. wirkt nach – inklusive verzerrter Operettenarien. Als Zusatzprogramm nach den großen Premieren (“Der Freischütz”, “Tancredi”) und vor den Uraufführungen, die die Festspiele schließlich noch im Programm haben (und für die ich als Rezensentin im Einsatz bin), passts.

Kommentare sind geschlossen.